Was sind Impfempfehlungen?
Individual- und Gemeinschaftsschutz auf Basis sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung
Schutzimpfungen sind wirksame Maßnahmen zur Prävention von Infektionskrankheiten. Impfungen haben die Lebensqualität verbessert und auch viel dazu beigetragen, dass die Krankheitshäufigkeit, die Komplikationsrate und die Sterblichkeit durch Infektionskrankheiten in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgegangen sind. Sie schützen nicht nur den Geimpften selbst (Individualschutz), sondern auch die Kinder und Erwachsenen in unserer direkten Umgebung, die nicht geimpft, immungeschwächt oder chronisch krank sind (Gemeinschaftsschutz). Ausreichend hohe Impfquoten verhindern in der Bevölkerung eine Weiterverbreitung dieser Krankheiten (Herdenimmunität).
Welche gängigen Impfungen tragen auch zum Gemeinschaftsschutz bei?
Gemeinschaftsschutz |
Individualschutz |
|
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Masern | + | + |
Mumps | + | + |
Röteln | + | + |
Keuchhusten | + | + |
Diphtherie | + | + |
Kinderlähmung | + | + |
Grippe | + | + |
Pneumokokken | + | + |
Tetanus | + | |
FSME | + | |
Hepatitis B | + | + |
Haemophilus influenzae B (Hib) | + | + |
Meningokokken | + | + |
HPV | + | + |
Rotaviren | + | + |
Windpocken (Varizellen) | + | + |
SARS-CoV-2 (Coronavirus) | + | + |
Durch einen koordinierten Einsatz von Schutzimpfungen, der über Ländergrenzen und Kontinente hinweg geht, können Infektionskrankheiten unter Umständen sogar ausgerottet werden.(1)
Bund schafft Möglichkeiten zum Impfschutz
Die Bundesrepublik Deutschland bekennt sich zum Impfen und hat die notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen: Von der Entwicklung, Marktzulassung, Herstellung sowie Überwachung von Impfstoffen über die Informations- und Aufklärungspflicht der Bevölkerung bis hin zur Erfassung von eventuellen Impfnebenwirkungen gibt es vielfältige gesetzliche Vorgaben, die im Infektionsschutzgesetz (IfSG) und dem Sozialgesetzbuch V verankert sind.(2)
Impfen ist in Deutschland eine freiwillige Entscheidung. Die einzige Ausnahme bildet das 2020 eingeführte Masernschutzgesetz. Dieses soll den Schutz vor Masern in Gemeinschaftseinrichtungen sowie in medizinischen Einrichtungen fördern. Betroffen davon sind v. a. Kinder in Kindertageseinrichtungen und Schulen und Beschäftigte in Gemeinschaftseinrichtungen oder medizinischen Einrichtungen.
Als Orientierung für eine Impfentscheidung spricht die zuständige Ständige Impfkommission (STIKO) offizielle Impfempfehlungen aus. Diese Empfehlungen erfolgen wissenschaftsbasiert nach einer äußerst sorgfältigen medizinisch-epidemiologischen Nutzen-Risiko-Abwägung.(1) Die STIKO-Mitglieder arbeiten dabei eigenverantwortlich, unabhängig und transparent, sie sind bei ihrer Tätigkeit nur ihrem Gewissen verantwortlich und zu unparteiischer Erfüllung ihrer Aufgaben verpflichtet.(3,4)
Die STIKO erteilt Empfehlungen grundsätzlich nur dann, wenn in Deutschland für die entsprechende Indikation ein Impfstoff zugelassen ist.(3)
Mit welcher Bewertungsmethodik geht die STIKO vor?
Bewertungsmethodik der STIKO (Nationaler Impfplan, Seite 45-46)
Bei der Beurteilung eines Impfstoffs und Erarbeitung einer neuen Impfempfehlung werden viele unterschiedliche Fragestellungen im Rahmen einer Risiko-Nutzen-Analyse bearbeitet, deren Antworten zusammengenommen der Kommission eine Empfehlung sinnvoll oder nicht erscheinen lassen. Die Entwicklung und Implementierung einer Impfempfehlung beinhaltet die Bewertung der verfügbaren Evidenz zur Wirksamkeit und Sicherheit der Impfstoffe in den Prä- aber auch Postmarketingphasen (5). Die Qualität der Evidenz ist ein Gradmesser für die Zuversicht, dass ein in wissenschaftlichen Studien ermittelter Effekt tatsächlich richtig ist und erneut eintreten wird. Hierbei werden neben dem individuellen Nutzen auch der Vorteil von Impfungen für ganze Bevölkerungsgruppen sowie auch andere, möglicherweise negative, Populationseffekte berücksichtigt.
Kriterien für die Bewertung einer Impfung hat die STIKO in einem umfassenden Fragenkatalog (zuletzt 2009 überarbeitet) festgelegt. Der Fragenkatalog umfasst die folgenden Themenschwerpunkte in sechs Kategorien:
- Erreger: mikrobiologische Charakteristika des Erregers, Pathogenität, Infektiosität, Epidemiologie (ggf. verschiedener Serotypen), Reproduktionsrate (R0)
- Zielkrankheit: z. B. Krankheitslast, Inzidenz, Komplikationen, Letalität, Risikogruppen, Therapiemöglichkeiten
- Verfügbare Impfstoffe: Anwendungsgebiete, Kontraindikationen, Immunogenität, Wirksamkeit, Sicherheit (individuell wie bevölkerungsbezogen), Schutzdauer
- Impfstrategie: Impfziel, Number-needed-to-vaccinate bezogen auf verschiedene Endpunkte, positive oder negative auch indirekte Effekte auf Bevölkerungsniveau, mögliche Replacementphänomene oder Altersverschiebungen
- Implementierung: Umsetzbarkeit, nötige Impfquoten, Integration in Impfplan, grobe Kostenabschätzung, alternative Möglichkeiten der Prävention, notwendige Surveillance-Systeme für die Erfassung von Impfquoten und Impferfolg, Daten, die für eine endgültige Entscheidung fehlen
- Abschließende Bewertung: Vorliegen eines öffentlichen Interesses, Gesamtbewertung der epidemiologischen Nutzen-Risiko-Analyse
Zur Beantwortung dieser Fragen wird eine umfassende Literaturrecherche zu bestimmten Fragestellungen oder Zielkriterien durchgeführt und darüber hinaus Daten aus der epidemiologischen Surveillance von impfpräventablen Erregern in verschiedenen Ländern hinzugezogen. Die Qualität der ermittelten Studien bzw. Daten wird nach standardisierten Kriterien beurteilt (6).
Stand 1. Januar 2012
Die Empfehlung einer Impfung wird ausgesprochen, wenn aus Sicht der STIKO die erforderliche Evidenz vorliegt und somit abgeschätzt werden kann, dass bei der Umsetzung der Impfempfehlung erwünschte Effekte resultieren, die insgesamt die bekannten, unerwünschten Auswirkungen überwiegen. In der Begründung der Empfehlung werden in der Regel Angaben zu den folgenden Punkten gemacht:
- Relative individuelle und bevölkerungsbezogene Bedeutung des Erregers und der Zielkrankheit
- Individuelles Grundrisiko oder bevölkerungsbezogene Risiken durch die Zielkrankheit
- Daten zur Wirksamkeit und zum Profil unerwünschter Wirkungen der Impfstoffe
- Auswirkungen einer Impfstrategie und mögliche Faktoren, die einem Erfolg entgegenstehen
- Relevanz fehlender Daten.
Die Arbeitsgruppen und die Geschäftsstelle der STIKO verfolgen mit Unterstützung des Fachbereiches Impfprävention und der Bibliothek des RKI kontinuierlich die relevanten aktuellen Publikationen. Sollten neue Ergebnisse ggf. eine Neubewertung einer bestehenden Impfempfehlung erforderlich machen, wird die jeweilige Fragestellung erneut auf die Agenda der STIKO gesetzt.
Die Impfempfehlungen der (STIKO) gelten als medizinischer Standard. Sie bilden die Grundlage für die öffentlichen Impfempfehlungen der Länder und die Kostenübernahme durch die Gesetzliche Krankenversicherung.(3)
Experten der Ständigen Impfkommission (STIKO) haben das mit einer Impfung verbundene Verhältnis zwischen Nutzen und möglichem Schadensrisiko für Sie bereits abgewogen.
Die jeweils aktuellen Empfehlungen der STIKO werden in der Regel einmal jährlich im Epidemiologischen Bulletin des RKI (in der Regel in der Ausgabe 30) und auf den Internetseiten des RKI unter www.rki.de/impfen veröffentlicht. Die empfohlenen Standardimpfungen für Kinder und Erwachsene werden in einem Impfkalender festgehalten.
Die STIKO unterscheidet bei den Impfempfehlungen verschiedene Alters- und Personengruppen(5):
- Standardimpfungen für Kinder und Erwachsene
- Indikationsimpfungen (Impfungen in besonderen Lebensphasen & Situationen, z.B. Schwangerschaft, chronische Krankheiten etc.)
- Beruflich indizierte Impfungen
- Reiseimpfungen
Ergänzend öffentliche Impfempfehlung der Länder
Ergänzend zu den Impfempfehlungen der STIKO werden Impfungen von den obersten Gesundheitsbehörden der Länder öffentlich empfohlen. Hierdurch wird die Bedeutung der Impfung als Präventionsleistung von Seiten des Staates herausgestrichen und die Durchführung von Impfungen unterstützt. Diese öffentliche Impfempfehlung ist gleichzeitig die Grundlage für eine mögliche Entschädigung durch die öffentliche Hand bei einem auftretenden Impfschaden nach § 60 IfSG.(3)
Bund & Länder: Gemeinsam zum (Impf-)Ziel
Im Rahmen des Nationalen Impfplans (NIP) vereinbaren Bund und Länder auf Basis der evidenzbasierten STIKO-Impfempfehlungen, verbindliche nationale Ziele(3) für einzelne Infektionskrankheiten zu benennen, wobei der Handlungsbedarf, die Umsetzungsstrategien und die Verantwortlichen genau bestimmt werden.
Blick auf Europa und europäische Impfempfehlungen
In vielen europäischen Ländern existieren ähnlich wie in Deutschland offizielle Impfempfehlungen oder Impfprogramme.(7) Eine Übersicht über nationale Impfempfehlungen in europäischen Ländern bietet der folgende Link: https://vaccine-schedule.ecdc.europa.eu/
2021 wurde durch die WHO Europa die Europäische Impfagenda 2030 (European Immunization Agenda 2030, EIA2030) veröffentlicht, eine Vision und Strategie, um im kommenden Jahrzehnt den vollen Nutzen von Impfungen in der WHO Europaregion zu erreichen. Die EIA2030 knüpft an den European Vaccine Action Plan 2015–2020 (EVAP) an.
Im internationalen Vergleich bietet das deutsche Impfwesen mit den gesetzlichen Regelungen sicherlich günstige Rahmenbedingungen.(2) Anders als in vielen anderen Ländern ist zudem die Kostenerstattung für Schutzimpfungen klar geregelt.(2) Die Kostenübernahme der Standardimpfungen ist eine Pflichtleistung der gesetzlichen Krankenkassen, die privaten Krankenkassen übernehmen ebenfalls die Kosten.
Weltweite Impfempfehlungen
In ihrer Immunization Agenda 2030 beschreibt die WHO globale Strategien, um weltweit für alle
- die Mortalität und Morbidität durch impfpräventable Krankheiten zu reduzieren,
- den gleichberechtigten Zugang und die Verwendung neuer und bestehender Impfstoffe zu erhöhen und
- zum Wohlbefinden beizutragen, indem die Immunisierung in der primären Gesundheitsversorgung gestärkt sowie ein Beitrag zur allgemeinen Gesundheitsversorgung und zur nachhaltigen Entwicklung geleistet wird.
Quellen:
- Geschäftsordnung der STIKO
- Nationaler Impfplan: Vorwort
- Nationaler Impfplan: 2. Impfempfehlungen und Impfziele
- Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) zur Durchführung von Schutzimpfungen und anderen Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe
- Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (abgerufen am 08.11.2021)
- § 20 Schutzimpfungen und andere Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe des Infektionsschutzgesetzes (§ 20 IfSG)
- „Impfpraxis in Deutschland und anderen europäischen Ländern“, Wissenschaftliche Dienste, Deutscher Bundestag, WD 9 - 3000 - 038/14